Gerechtigkeit von Anfang an

Diakonisches Werk

Jedes dritte Kind in Mülheim ist armutsgefährdet. Mit einer guten Finanzierung von Plätzen im Offenen Ganztag an Grundschulen hat die Stadt lange dagegen gehalten. Doch jetzt soll massiv gekürzt werden. Die Diakonie Mülheim und die Grundschule am Dichterviertel sind bestürzt. Sie befürchten, dass vor allem Kinder aus einkommensschwachen Familien zurückbleiben.

„Hallo, Herr Steinmeier. Schön, Sie zu sprechen“, sagt Naoual selbstbewusst bei der digitalen Verleihung des Deutschen Schulpreises. Dass die Drittklässlerin den Mut aufbringt, den Bundespräsidenten persönlich anzusprechen, überrascht Frank Walter-Steinmeier ganz offensichtlich. Kurz zuvor hatte er verkündet, dass ihre Schule, die Grundschule am Dichterviertel, den Preis in der Kategorie „Bildungsgerechtigkeit“ erhalten würde. Die Schule in Mülheim an der Ruhr befähige die Kinder zum eigenständigen Arbeiten, vor allem jetzt während der Corona-Pandemie. Beim Lernen bräuchten die Eltern ihre Kinder nicht zu unterstützen, heißt es in der Begründung. Das schaffe Bildungsgerechtigkeit.

Deutscher Schulpreis, Schule der Zukunft und Nominierung für das Projekt „Demokratie leben“ – die Schule ist preisgekrönt, mehrfach ausgezeichnet und landet bei den Lernstandserhebungen stets im oberen Drittel. Dabei liegt die Grundschule in einem klassischen Brennpunktviertel. 85 Prozent der knapp 190 Grundschüler kommen aus Familien, die Sozialleistungen oder staatliche Hilfen beziehen.

Lebendiges Lernen im Dichterviertel

 

Anpacken statt nur zu reden

Dass die Schule dennoch so erfolgreich ist, liegt auch an der engen Zusammenarbeit zwischen der Offenen Ganztagsbetreuung (OGS) der Diakonie und der Grundschule. Davon sind Birgit Hirsch-Palepu, Geschäftsführerin der Diakonie Mülheim, und Nicola Küppers, Leiterin der Gemeinschaftsschule, überzeugt. Hirsch-Palepu sitzt in ihrem Büro, Küppers ist von zu Hause dazu geschaltet. Trotzdem wirkt es, als säßen beide in einem Raum, so passgenau ergänzen sie die Sätze der jeweils anderen.

„Vor acht Jahren war das noch eine Restschule, die kurz vor der Schließung stand“, erinnert sich die Diakonikerin. Blinde Fenster, ein etwas heruntergekommenes Gebäude und sinkende Schülerzahlen. Wer konnte, meldete sein Kind an einer anderen Schule an. Hauptsache raus aus dem Brennpunkt. Und dann kam Nicola Küppers.

„In den Sommerferien bin ich in die Schule gegangen, um die neue Leiterin zu treffen“, erinnert sich Birgit Hirsch-Palepu. „Aber da war niemand. Nur eine Frau, die auf einer Leiter stand und am Streichen war. Das war Nicola Küppers.“ Selbst anpacken statt nur zu reden, so arbeiten beide Frauen. Und so wollen sie auch die angekündigten OGS-Kürzungen der Stadt Mülheim auffangen.

Kinder beim Lernen begleiten

600.000 Euro will die klamme Ruhrmetropole bei der Ganztagsbetreuung einsparen. Erst sollten es 1,2 Millionen Euro werden, doch der lautstarke Protest von Eltern und Lehrern machte Eindruck. In der Grundschule am Dichterviertel bedeuten die Einsparungen, dass 0,6 der insgesamt 3,5 Stellen wegfallen. „Das klingt erst einmal nicht nach viel, aber uns stellt es vor riesige Probleme“, so Hirsch-Palepu. Denn das Konzept der Schule setze auf hoch engagiertes und hoch qualifiziertes Personal, das sich ständig weiterbilde und enge Bindungen zu den Kindern aufbaue. „Mit befristeten Teilzeitstellen können wir die motivierten Fachkräfte nicht auf Dauer halten. Kinder brauchen aber stabile Beziehungen. Wir können nicht ständig das Personal wechseln.“

Küppers und Hirsch-Palepu ist es wichtig, nicht zwischen Lehrern und OGS-Kräften zu unterscheiden. Jeder bringt sich mit seinen Kompetenzen ein und lernt die Schüler von einer anderen Seite kennen. Als Schulteam begleiten sie die Kinder. Eine „Übergabe“ der Schülerinnen und Schüler in die OGS nach Unterrichtsende gibt es nicht. Stattdessen arbeiten die Pädagogen des Ganztags mit dem Kollegium zusammen. Braucht ein Kind gezielte Unterstützung, sind die OGS-Kräfte an seiner Seite. Auch bei den Projekten wie dem Schulradio, das freitags um 9.30 Uhr sendet, sind sie mit dabei.

Pyjamapartys vorm Computer

Bildungsgerechtigkeit schaffen – der Deutsche Schulpreis in der Kategorie ist eine Auszeichnung für das gesamte Schulteam. Als die Schulen schließen mussten, entschied Nicola Küppers: Arbeitsblätter oder Lernpakete, die darf es bei uns nicht geben. „Mit Lernpaketen geben wir das Lernen aus der Hand. Dann hängt es vom Elternhaus ab, ob und was die Kinder lernen. Das ist aber unsere Aufgabe. Wir können unseren Job nicht an die Eltern auslagern.“ Stattdessen übertrugen Küppers und ihre Kolleginnen und Kollegen den analogen Stundenplan ins Digitale. Die Diakonie Mülheim organisierte Endgeräte für die Schüler. Auf dem Pausenhof schulten die Mitarbeitenden und Ehrenamtliche die Familien und zeigten ihnen den Schul-Messenger, der in unterschiedlichen Sprachen verfügbar ist.

Das war die Grundlage für den neuen digitalen Alltag, der sich nicht so sehr vom normalen unterschied. Die Kinder machten virtuelle Ausflüge in den Zoo oder das Planetarium. Jede Schülerin und jeder Schüler lernte nach seinem individuellen Lernplan und die Sportstunde fand vor der Kamera statt. „Uns war es wichtig, dass die Kinder eine Struktur haben. Von 8.30 bis 13.30 Uhr war bei uns jedes Kind betreut“, so Küppers, die das Schulkonzept mittlerweile in Online-Tagungen in Südkorea und im mecklenburg-vorpommerischen Landtag vorstellt.

Und ab und zu gab es abends digitale Pyjamapartys mit Leserunde. „Unsere Schülerinnen und Schüler sind wesentlich selbstständiger geworden und gewachsen.“ Lücken, die jetzt aufgeholt werden müssten, gebe es daher kaum. „Unsere Kinder sollen in den Ferien auf Bäume klettern und nicht hinterm Schreibtisch sitzen“

Birgit Hirsch-Palepu (li.) und Nocola Küppers

Rechtsanspruch auf OGS-Platz

Hybrides Lernen und eine Verzahnung von Offenem Ganztag und Schule sind die Zukunft des Lernens. Davon ist Birgit Hirsch-Palepu überzeugt. Der Rechtsanspruch auf einen Platz in der Ganztagsbetreuung ab 2026/2027 sei längst überfällig. „Dass der Bundesrat den Gesetzentwurf erst einmal abgelehnt hat, überrascht mich nicht. Die Länder und Kommunen haben das Geld nicht. Hier muss die Bundesregierung mehr Verantwortung übernehmen“, betont die Diakonie-Geschäftsführerin.

Sie wünscht sich, dass mit der Rechtsgarantie auch die Standards für die Betreuung festgelegt werden. „Es kann nicht sein, dass wir festgeschriebene Personalschlüssel in der Kita haben, aber sobald die Kinder in die erste Klasse wechseln, fällt das weg“, so Hirsch-Palepu. „Am Ende müssen wir uns fragen: Was ist wichtig für unsere Gesellschaft? Die Ärmsten mitzunehmen und allen Kindern die Chancen auf eine gute Zukunft zu geben, kostet. Aber es zahlt sich aus.“ Nicola Küppers nickt.

  • 9.7.2021
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